Interviews

Die Selbstkitzelbefragung von und mit Christian Metz

Kann man sich selbst interviewen und sich dabei womöglich sogar selbst überraschen? Diese und andere Fragen stellt sich Christian Metz selbst und beantwortet sie sodann. Hier folgt also nun das erste Selbstinterview auf 114.

Christian Metz hat das allererste Buch über das Kitzeln geschrieben. Ein »Monumentalwerk«, wie es in den ersten Besprechungen heißt, über diese basale Empfindung, welche die Grundlage für unser Gefühl von Ambivalenz, aber auch das Spielen und den Umgang mit der Fiktion darstellt. Wir alle kennen das Kitzeln, bislang aber wissen wir noch fast nichts darüber. Eine der Besonderheiten des Kitzelns kennen wir aber schon: dass wir uns nicht selbst kitzeln können. Nicht einmal einem Kitzelexperten gelingt das. Da haben wir uns gedacht: Wenn man sich schon nicht selbst kitzeln kann, dann wird man sich doch wenigstens selbst interviewen können. 114 gibt Christian Metz den Raum für eine Selbstkitzelbefragung. Drei Fragen, die er in Sachen Kitzel schon immer an sich selbst stellen wollte, die er aber nicht zu fragen wagte: 

Von wegen Wagnis. Die erste Frage gibt die Anfrage ja doch schon vor. Also gut: Warum kann man sich nicht selbst kitzeln?
Die neueste Theorie vertritt der Berliner Neurowissenschaflter Michael Brecht, der mit Blick auf die Berührungs-, Ambivalenz- und Emotionsforschung seit Jahren Kitzelexperimente an Ratten durchführt. Von dieser Forschung sind meine eigenen kulturwissenschaftlichen Überlegungen über das Kitzeln in unserer Gegenwart stark geprägt. Brecht zeigt in seiner jüngsten Studie, dass im Fall der Selbstberührung eine »inhibitorische Bremse« im somatosensorischen Kortex aktiviert sei. Heißt: da werden Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet. Die wiederum führen zu einem totalen Lockdown genau jener Gehirnregion, die sonst beim Kitzeln, aber auch für das Spiel aktiviert wird. Ist die Region ausgeschaltet, bleiben Kitzel- und Lachgefühl aus. 
Ich fürchte aber, dass eine andere, viel ältere Theorie in absehbarer Zeit noch kulturell weitaus wirksamer sein wird als die Brecht‘sche Inhibitor-Theorie. Und um solche kulturellen Wirksamkeiten von Kitzelerzählungen geht es in meinem Buch. Weil das, was wir über unser Empfinden und Berühren erzählen, unbedingt auch prägt, wie wir empfinden und berühren. Diese andere Theorie stammt von Aristoteles: Demnach kann man sich nicht selbst kitzeln, weil man sich selbst nicht überraschen kann. Fehlt der Überraschungsmoment, fällt die Kitzelreaktion aus. Übrigens bin ich mir nicht sicher, ob sich diese Überraschungsthese nicht doch auch mit Michael Brechts neuen Erkenntnissen vereinbaren ließe. Aber das frage ich besser Herrn Brecht und nicht mich selbst. 

Spontane zweite Frage: Kann man sich in einem Selbstinterview überraschen? Oder stellt man sich die Fragen, deren Antworten man eh schon kennt?
Meine erste Assoziation ist: Das geht mit der Selbstüberraschung, und zwar mit Hilfe von Assoziationen oder von Verschreibern und Versprechern oder mit Kombinationsvermögen wie dem Witz. Die können einen schon zu Gedanken und Ideen führen, von denen man vorher noch nichts wusste. Die man vorher vielleicht auch noch gar nicht hatte. Und das wiederum gehört auch zu den wichtigen Kitzelgeschichten, die erzählt werden: Da fällt mir sofort der Vater von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf ein. 
Zwei Eigenschaften haben mich an diesem Mann immer beeindruckt: Zum einen, dass er ein Opfer von Kitzelfolter wird. Einmal wird dieser Vater Ephraim (»der doppelt Fruchtbare«, wie sein Name sagt) von Piraten entführt und gefangen gehalten: Über Wochen und Monate verrät er nicht, wo er seine Schätze vergraben hat. Aber zuletzt kitzeln die Piraten ihn, und da verrät er es dann wider Willen doch. Genauso wie Pippi Langstrumpfs Vater ging es auch schon dem Vater des »Simplicissimus« in Grimmelshausens Roman aus dem 17. Jahrhundert. Ob Astrid Lindgren wohl Grimmelshausen-Leserin war? Aber das ist eine Antwort, die ich schon kannte. Zum anderen hat mich an Pippi Langstrumpfs Vater aber schon immer beeindruckt, dass er etwas anderes kann: Trotz aussichtsloser Gefangenschaft behält der Kapitän seinen Humor. Von Weitem schon hört man ihn lachen. Die Piraten sind davon ziemlich irritiert. Und als sie ihn fragen, worüber er denn lacht, antwortet er: Er habe sich gerade einen Witz erzählt, den er zuvor noch nicht kannte. Das ist großartig. Weil auch das eine alte Kitzelgeschichte ist: Der Witz und die Assoziation sind das Kitzeln des Geistes. Wer gewitzt ist, kann sich sehr wohl selbst kitzeln, weil er sich eben auch selbst überraschen kann. Und Astrid Lindgren hat das offenbar nicht nur im Blick. Sondern findet dafür eine solche Erzählung. In der deutschsprachigen Literatur ist Jean Paul ein Meister dieses geistigen Kitzelwitzes, den er dann mit dem Kritzeln verbindet. Dazu gibt es ein eigenes Kapitel im Buch. Das zu Pippi Langstrumpf kommt erst noch, jetzt, da mir das eingefallen ist.

Welche Frage würdest du gerne mal zum Kitzeln gestellt bekommen. Und warum?
Puh. Am liebsten wäre mir eine total informierte Frage, die mich auf ein Feld des Kitzelns führt, das ich noch nicht kenne oder nur in Umrissen erahne. Also z.B. die Frage von einem Kenner der japanischen Gefühlskultur, der mir erzählen würde: In der japanischen Subjektphilosophie geht man ja nicht von einer bewusstseinsinternen Einheit des Individuums aus. Sondern von einem Netzwerk von Knoten, die sich dann in der jeweiligen Kommunikation zu immer neuen Ensembles und Einheiten formieren. Deshalb herrschen auch ganz andere Vorstellungen davon, was Berührung und Empfindungen sind und wie sie vom jeweils Einzelnen verrechnet werden. Dann hätte ich gerne, dass mir der Andere erzählt, welche Rolle das Kitzeln in diesen Zusammenhängen spielt. Was das überhaupt sein kann. Warum es in japanischen Filmen und Romanen so eine eigenartige Rolle spielt. Die Frage wäre dann: Willst du mehr darüber wissen und hören? Das wäre eine großartige Frage. Obwohl ich schon weiß, dass meine Antwort einfach »Ja!« lauten würde. Aber das führt jetzt schon wieder über das Buch hinaus, das ja erst einmal ein paar grundsätzlichere Fragen zum Kitzeln aufwirft und auf eigene Weise beantwortet.

Christian Metz, geboren 1975, nach seiner Rückkehr von der Cornell University Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der LMU in München. Jahrelang wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt und Literaturkritiker für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Promotion mit einer Arbeit zur »Narratologie der ...

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Christian Metz
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