Interviews

Im Gespräch mit Laetitia Colombani

Am 26. Februar erscheint Laetitia Colombanis neuer Roman »Das Haus der Frauen«. Lektorin Isabel Kupski sprach mit ihr über Blanche Peyron, Zivilcourage und wie sie als Schriftstellerin den Spagat zwischen schweren Themen und einer leichten schönen Lektüre schafft.

Portrait Laetitia Colombani
© CELINE NIESZAWER/OPALE/LEEMAGE/LAIF

Wie kamen Sie darauf, die Geschichte des Palais de la Femme in Paris zu erzählen und damit die Geschichte der Begründerin Blanche Peyron?

Vor ungefähr drei Jahren, da schrieb ich noch an »Der Zopf«, kam ich in Paris zufällig am Palais de la Femme vorbei. Der Name des Gebäudes stach mir ins Auge, danach erfuhr ich, dass es in Europa eins der größten Wohnheime für Frauen ist. Ich wollte mehr über die Geschichte des Hauses und die Begründerin Blanche Peyron erfahren und fing an über diese Frau zu recherchieren. In den 20er Jahren hatte sie zusammen mit ihrem Mann Albin die Leitung der französischen Heilsarmee inne und hat dafür gekämpft, den von der Gesellschaft vergessenen obdachlosen Frauen ein Heim zu geben. Ihr Schicksal und ihr Engagement haben mich überwältigt. Mir wurde klar, dass das Stoff für einen Roman ist. So entschied ich, anhand der Geschichten der Frauen, die seit der Gründung durch Blanche Peyron bis heute dort leben und arbeiten, die Geschichte des Palais zu erzählen.

War Ihnen, bevor Sie den Roman geschrieben haben, klar, wie viele Frauen Obdach suchen?

Ich war mir dieser Tatsache bewusst, aber mir war nicht wirklich klar, wie das Leben auf der Straße für Frauen aussieht. Ich hatte keine Ahnung von der Gewalt, der die Frauen ausgesetzt sind. Außerdem hatte ich mich bis dahin nicht mit konkreten Zahlen beschäftigt: diese sind erschreckend. Die Entwicklung genauso: Heute gibt es in Frankreich mehr Frauen denn je, die auf der Straße leben, manche schwanger, andere leben dort mit ihren kleinen Kindern. Das ist ein Phänomen, das viele Einrichtungen beunruhigt. Die Anfragen bei den Wohnheimen sind ansteigend. Frauen sind die erste Gruppe der Sozialempfänger, der Tafeln ... Frauen sind die ersten, die vom Prekariat betroffen sind.

In Ihrem Roman helfen Nanou und Fatima der obdachlosen Lily, so kann sie sich ab und zu waschen oder im Hausflur übernachten, sie sind mutig, denn sie gefährden ihre eigene Arbeitsstelle. Gibt es zu wenig Zivilcourage? 

Ich denke nicht, dass das Problem fehlender Mut ist, sondern Gleichgültigkeit. In Großstädten sind wir leider an den Anblick von Obdachlsoen gewöhnt: es gibt eine gewisse Akzeptanz, die allerdings inakzeptabel ist. Wie ich es im Roman beschreibe: die Verantwortung des Einzelnen verwässert in der Gemeinschaft, man denkt, dass man eh nichts ändern kann und geht daher weiter. Ich bin überzeugt, dass die persönliche Initiative die Dinge verändert. Jede Geste zählt. Natürlich gibt es einschneidende, wirklich große Maßnahmen, wie die der Blanche Peyron, die Millionen Frauen vor dem Elend gerettet hat, aber jeder kann auf seine Art etwas tun – eine Münze, eine Kleidung, etwas Zeit schenken, all das sind wichtige Gesten der Solidarität. Das ist das, was Solène, die andere Heldin im Roman für sich entdeckt.

Das Leben auf der Straße ist sehr hart – in Ihrem Roman erfahren wir dies von Lily - dennoch bleiben manche lieber auf der Straße, als den Sprung zurück in die Gesellschaft zu wagen. Warum ist das so?

Ich denke, dass jede Geschichte außergewöhnlich ist und man nicht verallgemeinern kann. Ich glaube, dass sich jede Frau, die auf der Straße lebt, ein Dach über dem Kopf wünscht. Die Straße ist nie eine Wahl; für Frauen ist sie die Hölle, noch mehr als für Männer, denn Frauen werden dort zum Freiwild. Frauen sind auf der Straße übrigens noch isolierter, Männer finden sich eher in Gruppen zusammen. Dennoch ist es schwierig, von der Straße weg zu kommen, wie es der Weg von Die Renée im Roman zeigt. Viele Einrichtungen können Frauen nicht ausreichend schützen, oft verweigern Frauen die Aufnahme in eine gemischte Einrichtung, weil sie fürchten, Übergriffen ausgesetzt zu sein. Auf der Straße verliert man die Orientierung, das Zeitgefühl, man schläft nicht mehr. Am Morgen aufzustehen und einen Termin wahrzunehmen ist eine Herausforderung. Wie also dann eine Arbeit finden, ein Einkommen, einen Mitvertrag? Das ist ein gewaltiger Schritt. Ohne jemanden, der einen an die Hand nimmt, ist es extrem schwierig, sich aus dem Elend rauszuziehen.

Sie haben mit den Bewohnerinnen und Mitarbeiterin des Palais de la Femme gesprochen. Hat das Ihr Leben verändert?

Bevor ich anfing, den Roman zu schreiben, habe ich viel Zeit im Palais verbracht. Die Direktorin hat mir die Tür weit geöffnet, die Mitarbeiterinnen wie die Bewohnerinnen haben sich darauf eingelassen, mir ihr Leben zu erzählen. Dieser Ort ist unglaublich intensiv, das ganze Gebäude hallt von all den außergwöhnlichen Einzelgeschichten wider. Mancher Bericht hat mich erschüttert. Aber was mich am meisten erstaunt hat, ist, dass die Frauen dennoch erhobenen Hauptes berichten. Ihr Mut ist außergewöhnlich, so auch ihre Widerstandsfähigkeit. Sie alle sind Kämpferinnen, sie haben die Straße überlebt, Gewalt, Krieg, Prostitution. Sie haben einen unglaublichen Lebenswillen. Das relativiert die kleinen Alltagssorgen, die wir in unserem behüteten, gutsituiertem Leben so haben.

Sie sprechen in Ihrem Roman von der »Angst vor der Armut«, was meinen Sie damit?

Ich glaube, dass Armut Angst macht. Sie spiegelt eine Seite der Gesellschaft wider, der wir nur ungern ins Gesicht sehen. Es ist angenehmer, den Blick abzuwenden als sich mit der brutalen Tatsache zu konfrontieren, dass unsere Gesellschaft Menschen fallen lässt, sie im Stich lässt. In »Der Zopf« schildere ich die berufliche Ausgrenzung der brillanten Anwältin Sarah, nachdem sie an Krebs erkrankt ist. Man muss nicht weit weg nach Indien zu den Unberührbaren gehen, in unserer westlichen Welt gibt es auch Menschen, die man nicht berührt, die man nicht sieht. Auch wenn wir sie jeden Tag in den Straßen sehen. Dies sind die Menschen, die ich in meinem Roman ehren wollte, so wie jene, die sich für diese Menschen aufreiben.

»Das Haus der Frauen« ist nicht nur ein bewegender und spannender Roman, Ihnen ist es auch gelungen zu zeigen, dass mehr Empathie auf eine gewisse Weise Leben retten kann. Ihr Roman hat eine ungeheure Botschaft. War diese Wirkung geplant?

Ich glaube an die Kraft des Mitgefühls, an die Solidarität, den Zusammenhalt unter den Menschen. Blanche Peyron hat daraus ihre Kraft geschöpft, für sie war das die Basis ihres Lebens; die Empathie, die sie Menschen in Not entgegenbrachte, hat dazu geführt, Großes zu tun. In Frankreich haben mir Leser, Frauen wie Männer, nach Erscheinen vom »Haus der Frauen« geschrieben, dass sie sich seit der Lektüre sozial engagieren. Das berührt mich unendlich. Mein Roman ist nur ein Wassertropfen, so wie der, den der Kolibri im Märchen von Pierre Rabhi in seinem Schnabel transportiert, um den Brand zu löschen. Seine Tat ist läppisch, aber er leistet seinen Beitrag. Also wenn mein Roman, dazu aufruft, etwas zu tun, selbst die kleinste Tat, dann ist das wunderbar! Dann hat er seinen Beitrag geleistet. 

Indem Sie die Geschichten der Frauen in Not erzählen, geben Sie ihnen ihre Würde zurück. Sollten wir mehr den Geschichten anderer zuhören?

Ich glaube, dass eine der Aufgaben der Literatur darin besteht, auf etwas hinzuweisen, uns gewisser Dinge bewusst zu werden. Wenn ich einen Roman vorbereite, höre ich den Leuten sehr viel zu, sammle ihre Berichte, notiere sie. Ich bin sehr neugierig, habe großes Interesse am Menschen, was sie leben und durchmachen. Ich reise leidenschaftlich gern zu den Herzen der Menschen. Ich glaube, würde ich nicht Filme drehen oder Romane schreiben, dann wäre ich Psychoanalytikerin geworden! Ich glaube an die Kraft des Zuhörens. Manchmal ist das das Einzige, was man geben kann. Das ist viel!

Blanche Peyron ist auch der Anwältin Solène in Ihrem Roman bis zum Schluss eine Unbekannte. Mit »Das Haus der Frauen« setzen Sie einer Frau, die Unglaubliches (vor allem in Paris) geleistet hat, nach 100 Jahren endlich ein Denkmal. Wie haben die französischen, vor allem die Pariser Leser darauf reagiert? 

Ja, ich habe sehr viele Briefe von Leserrinnen und Lesern bekommen, die vor allem Blanche Peyron hervorheben! Die große Mehrheit kannte sie nicht, so wie ich auch. Sie ist ungerechterweise ins Loch des Vergessens gefallen, und ich bin froh, dazu beigetragen zu haben, sie wieder in Erinnerung zu bringen – natürlich nicht zu vergessen ihren treuen Mitstreiter, ihren Ehemann Albin. Bei einer Signierstunde in Paris habe ich eine wunderbare Überraschung erlebt: Einer ihrer Ur-Ur-Enkelinnen stellte sich mir vor! Sie bedankte sich, dass ich ihrer Ur-Ur-Großmutter Blanche ein Denkmal gesetzt habe. Das hat mich unglaublich bewegt.

»Das Haus der Frauen« ist ein Roman mit sehr viel Hoffnung, aus dem man mit guten Gefühlen hervorgeht. Aber es gibt in Ihrem Roman auch viel Traurigkeit. Wie haben Sie diesen Spagat zwischen dem schweren Thema und einer leichten schönen Lektüre geschafft? 

Die Wette war, die Geschichte des Palais de la Femme zu erzählen und dabei weder ins Gutmenschentum noch in die Schwarzmalerei abzurutschen. Ich wollte diesen Ort realistisch darstellen, das Wunderbare genauso wie das Traurige, Bittere – und so heißt es ja auch im Roman, man lebt in einer solchen Einrichtung nicht freiwillig, sondern aus Not. Ich wollte aber unbedingt ein hoffnungsvolles Ende, so wie es mir auch im »Zopf« gelungen ist. Der Palais ist ein Ort, an dem man sich wieder aufrichtet, der Wartesaal für ein besseres Leben. Für mich musste der Roman unbedingt optimistisch enden.

Haben Sie schon Pläne für einen nächsten Roman?

Ja, ich arbeite bereits daran! Wie für meine beiden ersten Romane recherchiere ich gerade sehr viel…. Aber ich kann momentan nicht mehr sagen. Nur so viel, dass es wieder um Frauen geht, immer wieder um mutige Frauen, die erhobenen Hauptes voranschreiten, solche Frauen inspirieren mich, geben mir die Lust zum Schreiben.

Fragen und Übersetzung aus dem Französischen von Isabel Kupski

Laetitia Colombani

Laetitia Colombani

Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. »Das Haus der Frauen« ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Die Idee für ihren dritten Roman »Das Mädchen mit dem Drachen« fand Laetitia Colombani in Indien, in einer Schule für Dalits, während der Vorbereitungen zur Verfilmung von »Der Zopf«. Laetitia Colombani lebt in Paris.